Er wollte nur zurück auf seinen Baum

 

Auf dem Waldboden lag ein abgeschnittener Ast. Er träumte. Er träumte immer. Die Gräser, das Moos und die Blätter vom letzten Herbst waren ihm gleichgültig. Er gehörte nicht hierher. Auch mit den Käfern, Mäusen und Maulwürfen wollte er nichts zu tun haben. Wer mit ihm zu reden versuchte, bekam nur ein gereiztes „Ach, lasst mich in Ruhe!“ zur Antwort. Er wollte auf seinen Baum zurück. Aber was verstand ein Maulwurf davon? Das Waldbodenvolk hatte doch gar keine Ahnung, was es hiess, hoch oben im Wind zu schaukeln und mit den Blättern zu rascheln.

Hier unten wurde es den ganzen Tag nicht richtig hell. Er ärgerte sich über die anderen Äste und Zweige, die sich auf dem Waldboden eingerichtet hatten. Sie lagen schon Jahre hier, hatten sich abgefunden. Manche verfielen zusehends. Sie schenkten ihre eigenen Nährstoffe weg, nur damit Pilze und Moose auf ihnen wuchern konnten. Andere hatten mühevoll Wurzeln gebildet und trieben sie in die feuchte Erde. Sie würden immer hier bleiben, als kleine Bäumchen im Schatten der grossen. Nein, das wollte der Ast nicht! Schlimm genug, was man ihm angetan hatte. Sein ganzes oberes Ende fehlte, das Zweigbüschel mit allen Blättern. Die Säge hatte es einfach gekappt, bevor sie ihn vom Baum schnitt. Nichts raschelte mehr an ihm, er war nur noch ein schlanker Knüppel

Eines Tages sprach er dann doch. Ein Vogel hatte sich auf dem Waldboden niedergelassen, um Würmer zu suchen. „Kannst du mich wieder nach oben bringen?“ fragte der Ast unvermittelt.

Der Vogel hielt beim Picken inne. „Nach oben? Von welchem Baum kommst du denn?“

„Ich gehöre zu dem da vorne, mit dem Vogelhäuschen am Stamm.“

Eine Ratte, die dem Gespräch zuhörte, lachte. „Er lügt!“ rief sie hämisch. „Jeder hier weiß, dass sein Baum gefällt wurde. Da hat er gestanden!“ Sie zeigte dem Vogel einen bemoosten Baumstumpf. „Unser junger Träumer wurde ganz einfach abgesägt. Aber er hält sich wohl für etwas Besseres.“

Der Vogel schaute den Ast prüfend an, pickte nach einem Wurm und zwitscherte mit vollem Mund: „Ich hätte dich gern mitgenommen, aber du bist mir wohl ein bisschen zu schwer. Leider bin ich kein Adler.“ Elegant breitete er die Flügel aus und schwang sich in die Luft.

Der Ast versank in dumpfes Brüten.

„Du tust dir wohl sehr leid, wie?“ Die Ratte hockte plötzlich neben ihm. „Ich habe schon viele wie dich fallen sehen. Lagen eine Zeitlang wehleidig herum und fingen rasch an zu faulen. Dein Baum ist im Sägewerk, das weißt du ganz genau. An Ketten haben sie ihn fortgeschafft.“

Der Ast schrie auf.

„Stell dich nicht so an. Mal sehen, ob du wenigstens als Futter taugst.“ Schon knabberten ihren emsigen Zähne an seiner Rinde entlang.

„Du Bestie! Das wirst du büßen! Du feige, dreckige...“

„Du willst dich rächen?“ unterbrach ihn die Ratte „Nur zu!“ Sie lachte höhnisch und trollte sich zu ihrem Loch zurück

Der Ast zitterte. Die Ratte erschlagen! „Warte nur!“ brüllte er ihr hinterher „Eines Tages krache ich dir auf den Kopf...“

Die Ratte schaute sich gar nicht mehr um.

Es regnete. Die Tiere schlüpften in ihre Behausungen, um den stöhnenden Ast kümmerte sich niemand. Der Regen weichte seine Rinde auf. Schuld war die Ratte. Warum hatte sie sich eingemischt? Vielleicht hätte der Vogel Verstärkung geholt, einen Adler. Oben auf dem Baum könnte ich mich leicht in eine Astgabel klemmen...

Tagelang wurde er nicht richtig trocken. Das Frühlingswetter war sehr wechselhaft, die seltenen Sonnenstrahlen erreichten ihn kaum. Schon lösten sich angenagte Rindenfetzen von seinem Körper. Diese elende Ratte.

Am Sonntagnachmittag stromerte durchs Unterholz ein kleiner Junge, dem das Spazierengehen mit seinen Eltern auf dem Waldweg zu langweilig geworden war. Hier und da rupfte er Gräser und Blumen aus, liess sie wieder fallen, er stocherte mit einem Stock im Waldboden herum und schleuderte ihn dann gegen den nächstbesten Baum, er griff nach dem feuchten Ast.

„Oh, eine Peitsche!“ murmelte der Junge und hob ihn auf. Seine Hand konnte ihn kaum umspannen. Vom Kopfende des Astes baumelte ein loser Rindenstreifen herab.

Der Junge schlug beim Gehen spielerisch mit seiner Peitsche nach Pusteblumen, Grashalmen und kleinen Zweigen. Der Ast konnte sich nicht wehren, jeder Peitschenhieb schmerzte an seinem empfindlichen Hautstreifen. Er erschrak. Habe ich das getan? Nein, es ist ja der Junge, der schlägt.

Der nächste Hieb durchtrennte einen Halm in zwei Teile. Wenn das jetzt ein Knochen der Ratte wäre... ihm wurde heiss.

Der Junge verlor die Lust an seinem Spiel. Wieder auf dem Waldweg bei seinen Eltern, warf er die Peitsche achtlos fort und widmete sich einem Ameisenhaufen.

Der Ast landete neben einem Stapel zersägter Hölzer. Langsam kam er zur Ruhe, die Sonne wärmte ihn. Schön war es hier. Buschwindröschen, Butterblumen und Brennnesseln, weiter vorn schimmerte eine Lichtung, in der Nähe plätscherte ein Bach. Aber der Ast nahm nichts davon wahr. In ihm brannten Bilder von Adlern, Baumkronen, Ratten und gebrochenen Halmen.

„Hallo, neuer Nachbar!“ reif ihn eine klobige Holzbank von der anderen Seite des Weges an. „Wirst du hier wohnen bleiben, oder bist du nur auf der Durchreise?“

Der Ast gab keine Antwort.

Es wurde Sommer. Gutmütig scherzten die gestapelten Hölzer über Ausflügler die sich für die Wanderung von den Parkplätzen ihrer Autos bis zur nahegelegenen Waldschänke mit Kniebundhosen und Schnürstiefeln ausgerüstet hatten, und die regelmässig auf der Bank eine Verschnaufpause einlegten. Der Ast beteiligte sich nicht an den Unterhaltungen. Sehnsüchtig schaute er zu den Baumkronen hinauf und lauschte dem Rauschen des Windes.

Ein gutgelaunter Schäferhundbesitzer, der gerade in der Waldschenke eine Portion geröstetes Tier mit zwei halben Litern Starkbier heruntergespült hatte, hob den Ast unvermittelt auf und schleuderte ihn in den Wald. Er wollte seinem Hund Bewegung gönnen und befahl ihm, den Knüppel zu apportieren. Aber er hatte schlecht gezielt. Der Ast plumpste in den nahen Bach.

Wieso bestand die Welt plötzlich nur noch aus kaltem Wasser? Der Ast konnte sich nirgends festhalten. Baumwurzeln, Ufersteine und Grasoden sausten zu beiden Seiten an ihm vorüber, wie verschwommene Bilder, ab und zu auch ein Fetzen Dunkelheit, wenn ihn die Strömung unter einer kleinen Brücke hindurchtrieb. Der Bach schlängelte sich quer durch den ganzen Wald. Langsam begriff der Ast, dass er dem Hund entkommen war. Seine Zähne hatten sehr gefährlich ausgesehen. „Nun könnte das Wasser ruhig etwas langsamer werden. So eilig habe ich es doch gar nicht mehr!“

Der Wald verschwand, es ging an Feldern und Wiesen entlang. Eine Mücke liess sich auf dem Ast nieder und benutzte ihn als Floss, bis der Bach in einen grossen See mündete. Hier schwächte sich die Strömung ab, das Wasser wurde wärmer. Gemächlich dümpelte der Ast über die gekräuselten Wellen. In einiger Entfernung glitten Segelbote vorbei, und ganz hinten, am Ufer, sah er Baumgruppen und einzelne Bäume.

Wenn er erst wieder auf einem Baum wäre! Das ruhige Schaukeln auf den Wellen machte schläfrig.

Beinahe wäre er mit einem anderen Stück Schwemmholz zusammengestossen. „Hallo! Ein Kollege!“ rief es munter. „Erzähl, wo kommst du her?“

Der Ast musterte das fremde Holz, das ihn aus seinen Träumereien geschreckt hatte. Es sah so ähnlich aus, wie er selbst. Ein Kollege, hatte es gesagt? Er verscheuchte den Ärger über die Störung. Vielleicht war dies ein Leidensgefährte, der ihn verstehen könnte? „Ich bin von meinem Baum abgesägt worden.“ Sagte er schliesslich. Der Fremdling lachte. „Das sind wir alle. Aber was hast du danach gemacht?“

Zögernd erzählte der Ast seine Erlebnisse, vom Waldboden bis zum sprudelnden Bach.

„Bislang hast du wohl nicht viel Glück gehabt.“ Gab der andere zu. „Ich war Leitersprosse an einem Hochsitz.“

„War das besser?“

„Ich wurde nur von zwei dicken Nägeln festgehalten. Ab und zu hat sich der Förster bei mir abgestützt. Hätte alles schlimmer kommen könne. Man hat nicht viel an mir herumgeschnitzt, - wie bei den Latten zum Beispiel -, die Aussicht war gut, und immerhin habe ich ja etwas Nützliches getan.“

Etwas Nützliches. „Und jetzt?“

„Der Hochsitz wurde vom Sturm zerstört. Er stand nahe am See, da bin ich ins Wasser gepustet worden. Was nun kommt, weiss ich nicht. Es ist auf jeden Fall spannend, etwas Neues zu erleben.“

„Willst du denn gar nicht auf deinen Baum zurück?“

„Auf meinen Baum?“ Der fremde Ast musste sich erst besinnen. „Dahin kann ich nicht zurück. Mein Baum wurde schon vor Jahren abgesägt. Vielleicht werde ich noch einmal für irgend etwas gebraucht. Wer weiss!“

Schweigend trieben sie nebeneinander her. Der andere will nicht auf seinen Baum zurück, dachte der Ast. Ein Segelschiff kam auf ihn zu. Es fuhr sehr schnell. Er konnte nicht ausweichen, es pflügte über ihn hinweg. Dann wurde er plötzlich gezogen: Etwas hielt ihn unter dem Boot fest. Rindenfetzen hatten sich im Propeller verhakt und schleiften den Ast unter Wasser mit. Das Segelschiff steuerte auf den Fluss zu, der den See in Richtung Meer verliess.

Er war ein Stück Treibholz in endlosem, salzigen Wasser. Über ihm erstreckte sich ein unermesslicher Himmel, viel grösser als der, den er früher gekannt hatte. Bäume gab es hier nicht, nur Himmel und Wasser. Der Ast kam sich sehr klein vor. Er liess sich treiben.

Längst hatte seine Haut sich abgeschält, die Schmerzen waren vergessen. Wellen schwemmten ihn an Strände und zogen ihn wieder zurück ins Meer, er schaukelte träge dahin und hüpfte wild über Schaumkronen, er sog sich voll Salzwasser und trocknete wieder in der Sonne. Er lernte eine alte Bootsplanke kennen und freundete sich mit ihr an. Als ein Sturm aufkam, tanzte er mit ihr auf den Wellenkämmen bis ihm schwindelig wurde. Nur noch selten träumte er von seiner Baumkrone.

Wieder einmal lag er auf einem Strand. Er trocknete schnell, das Salzwasser hatte ihn ausgezehrt. Ein paar Jugendliche, die nach einer Markierung für ihr Fußballtor suchten, hoben ihn auf und steckten ihn weiter oben bei den Dünen in den heissen Sand. Der Ast beobachtete das Getümmel und Gejohle der Fußballspieler. Als er plötzlich mit Wucht von einem Ball getroffen wurde, fand er diesen Sport abstossend. Gegen Abend gingen die Ballspieler zu ihren Autos zurück und liessen den Ast im Sand stecken. Am Strand wurde es still.

Hier oben erreichten ihn die Wellen nicht. Zwischen den Dünen konnte er ein Stück ins Land blicken, weiter hinten wuchsen Bäume. Abwechselnd schaute er in beide Richtungen, aufs Meer und auf die Baumkronen, bis die Sonne untergegangen war. Ich werde alt, dachte der Ast, ich bin sehr müde.

In der Dunkelheit fiel ihm ein seltsames Licht auf. Es kam aus einer Mulde hinter den Dünen. Der Nachtwind war kühl, den Ast fröstelte. Das Licht sah warm aus. Es leuchtete anders als die Sterne, als Schiffslampen oder die Laternen der Küstenstrassen. Geheimnisvoll sah es aus, gelb und rot, beinahe wie Sonnenlicht – eine kleine Sonne, die im Abendwind flackerte.

Dann war da plötzlich noch ein zweites Licht, ein weisser Lichtstrahl, der sich zu bewegen schien. Richtig, er tastete sich von der kleinen Sonne über den Dünensand in Richtung Meer. Ab und zu blieb er stehen. Er kam näher an den Ast heran.

Der weisse Lichtstrahl blieb auf ihm ruhen. Eine Hand zog ihn aus dem Sand und schob ihn zu anderen trockenen Hölzern in eine zerbrochene Fischkiste. Der Mensch mit der Taschenlampe klemmte die Kiste unter den Arm und kehrte bald um. Schon waren um das Lagerfeuer herum sitzende Gestalten zu erkennen. Er hörte fröhliche Stimmen und leise Gitarrenklänge.

„Jetzt geht es zu der kleinen Sonne.“ dachte der Ast. Ihm wurde ganz warm.

 

 

moritz heller

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