Ist Gähnen wirklich ansteckend?

Zuerst ist es nur ein Gefühl, das tief hinten zwischen Rachen und Ohren zu sitzen scheint. Dann öffnet sich der Mund ein wenig, und die Lungen saugen Luft ein. Immer stärker weitet sich der Mund der Länge nach, die Augen schliessen sich, und manchmal schiessen dabei Tränen ein, weil die Gesichtsmuskeln auf die Tränendrüsen drücken.
Gähnen ist eigentlich eine ziemlich unspektakuläre alltägliche Sache. Besonders bei Müdigkeit oder Langeweile kommt es unwillkürlich. Das ist gesund: Durch das Gähnen streckt sich die Kiefermuskulatur und entspannt sich wieder, der Herzschlag beschleunigt sich, unser Gehirn wird besser durchblutet.
Im Tierreich hat Gähnen eine soziale Funktion: Es übt eine Signalwirkung auf andere aus und steuert das Verhalten einer Gruppe. Gähnt einer, dann heisst das für alle: Schlafen gehen. Forscher vermuten, dass Gähnen aus diesem Grund auch manchmal ansteckend ist. Gähnen ist ein Reflex, das heisst, eine immer wieder auftretende gleiche Reaktion auf einen bestimmten Reiz. Was der Reiz ist und warum die Menschen gähnen, darüber rätseln Wissenschaftler immer noch. Lange Zeit galt das Gähnen unbestritten als ein Reflex auf einen Sauerstoffmangel im Blut, zum Beispiel bei Müdigkeit. Durch das tiefe Einatmen wird das Gehirn zwar tatsächlich besser durchblutet, doch amerikanische Forscher fanden unlängst heraus, dass auch bei einer sehr guten Sauerstoff-Sättigung des Blutes gegähnt wird.
Bei Menschen, die ein Luftgemisch mit erhöhter Kohlendioxid-Konzentration atmeten, erhöhte sich zwar die Atemrate, aber sie gähnten nicht häufiger. Menschen, die reinen Sauerstoff atmeten, gähnten ebenfalls genauso viel wie sonst Ausserdem steckt Gähnen an, wenn wir nur darüber lesen, davon hören oder daran denken. Studien haben gezeigt, dass sich jeder Zweite anstecken lässt. Einige reagieren schon in den ersten Sekunden, andere erst nach fünf Minuten. Dieses veranlasst Wissenschaftler zu der Vermutung, Gähnen habe eine zwischenmenschliche Funktion.
Forschern zufolge werden nur verständnisvolle und mitfühlende Personen durch gähnende Mitmenschen zum Mitgähnen animiert. Steven Platek von der Drexel University in Philadelphia konnte in einer Studie mit Videoaufnahmen von gähnenden Menschen den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsstruktur eines Menschen und seiner Anfälligkeit sich durch Gähnen anstecken zu lassen nachweisen. Möglicherweise entstehe durch das gemeinsame Gähnen unbewusst eine Möglichkeit, sich mit dem anderen zu identifizieren und auch zu verbünden, vermuten die Forscher. Seelisch kranke Menschen, die sich nicht in andere hineinversetzen können, zum Beispiel Schizophrene, werden dagegen von den Gefühlen anderer nicht berührt; sie lässt auch das Gähnen kalt.